Die Luft in Yunnan fühlt sich anders an. Sie ist kühl und klar, wie ein Hauch von etwas Unberührtem. In den Ausläufern des Himalayas verschwimmen die Grenzen zwischen Himmel und Erde. Die Tee-Pferde-Straße, Chama Gudao, schlängelt sich wie eine Narbe durch Berge und Täler, ein Zeuge vergangener Zeiten. Während unser Mercedes-Van die Serpentinen erklimmt, höre ich Geschichten – von Karawanen, die einst Tee und Salz auf den Rücken der zähen Ponys transportierten, und von buddhistischen Gelehrten, die Glaube und Weisheit über die Gipfel trugen. Es ist schwer, sich dieser mystischen Aura zu entziehen.
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Lijiang: Ein Fenster in eine andere Welt
Unser erster Halt ist Lijiang, eine Stadt, die sich wie eine Filmszene anfühlt. Ihre gepflasterten Straßen und Holzhäuser sind perfekt erhalten, fast unwirklich. Kleine Kanäle schlängeln sich durch die Gassen, und überall gibt es Leben: Händler, die handgefertigte Schmuckstücke verkaufen, Touristinnen aus den chinesischen Metropolen, die sich in traditionellen (und weniger traditionellen) Naxi-Trachten fotografieren lassen, und bunt blühende Blumen, so weit das Auge reicht.
Wir schlendern durch die Altstadt, lassen uns treiben. Die Zeit scheint hier einen anderen Rhythmus zu haben. Es gibt keine Eile, keine Dringlichkeit, nur den Moment. Ich kaufe eine tibetische Klangschal in einem der kleinen Shops, die die Gassen säumen. Der Verkäufer stein junger Chinese, der mir den Preis mit dem Handy übersetzen muss. Englisch spricht hier keiner. Nur gut, dass wir von einen Guide an der Seite haben, der das Nötigste übersetzten kann und uns versucht beizubringen das Wort für „Danke“ – „Xie Xie“ – korrekt auszusprechen.
Doch so idyllisch Lijiang auch wirkt, es bleibt ein Gefühl von Distanz. Als Besucher bleibt man außen vor, ein stiller Beobachter in einer Welt, deren Lebensrhythmus und Kultur man kaum verstehen kann. Hier wird einem bewusst, wie fremd und unübersetzbar das Leben in manchen Teilen der Welt bleibt, selbst wenn man glaubt, schon viel gesehen zu haben. Und Lijiang ist nur der Anfang! Von hier aus führt die Reise in die Wildnis des Himalaya, vorbei am Wenfeng-Kloster, dessen hölzerne Hallen in den Bergen verborgen liegen, und weiter bis zur tibetischen Grenze und der legendären Tigersprung-Schlucht.
Die Tigersprung-Schlucht
Die Fahrt zur Tigersprung-Schlucht ist ein Abenteuer für sich. Die Straße windet sich in engen Kurven die Berge hinauf, und mit jedem Kilometer wird die Luft dünner, die Landschaft karger. Unser Guide – ein drahtiger Tibeter, der in Indien (ein bisschen) Englisch gelernt hat – erklärt uns die Legende des Tigers, der angeblich über den reißenden Jinsha-Fluss sprang, um einem Jäger zu entkommen.
Als wir schließlich die Schlucht erreichen, verschlägt es mir den Atem. Steile Klippen ragen wie Monumente in den Himmel, und unten donnert der Fluss, unaufhaltsam, gewaltig. Ich stehe am Rand und fühle mich klein – ein winziger Punkt in der Unermesslichkeit der Natur.
Shangri-La: Ein Mythos wird Realität
Von der Tigersprung-Schlucht führt unser Weg nach Shangri-La, einer Stadt, deren Name den Seiten eines Romans entsprungen ist. In den 1930er Jahren schrieb James Hilton in Lost Horizon über ein verborgenes Paradies im Himalaya. Als die örtliche Regierung 2001 beschloss, Zhongdian in Shangri-La umzubenennen, war die Botschaft eindeutig: Ein Name allein kann eine Welt voller Reisender anziehen.
Doch hinter der cleveren Vermarktung liegt etwas Tiefgründigeres – ein Hauch von Magie, geformt durch Glauben. Mönche aus der gesamten Region pilgern hierher, um im Songzanlin-Kloster zu beten und zu lernen. Kein Besuch in Shangri-La ist vollständig ohne einen Abstecher zu diesem beeindruckenden Heiligtum, das auch als „Kleiner Potala-Palast“ bekannt ist. Schon aus der Ferne strahlen die goldenen Dächer im Sonnenlicht, und je näher man kommt, desto imposanter erhebt sich das Kloster über die umliegende Landschaft.
Im Inneren des Klosters drehen sich Gebetsmühlen unermüdlich, während das allgegenwärtige Mantra „Om Mani Padme Hum“ wie ein lebendiger Herzschlag die Räume füllt. Mönche in leuchtend roten Roben bewegen sich mit einer ruhigen Gelassenheit, die auf den Betrachter überzugehen scheint.
Zurück im Songtsam-Hotel, unserer Unterkunft während der gesamten Abenteuerreise durch Yunnan, werden wir eingeladen, an einem Workshop für Thangka-Malerei teilzunehmen. Diese traditionelle tibetische Kunstform ist mehr als nur kreativer Ausdruck – sie ist eine Meditation. Als ich den Pinsel vorsichtig über die Leinwand führe, spüre ich, wie mein Atem ruhiger wird und meine Gedanken sich klären. Für einen Moment fühle ich, was die Mönche im Kloster suchen: Frieden.
Wo die Zeit stehen bleibt und die Worte fehlen
Die Rückfahrt nach Lijiang, von wo aus wir die Heimreise nach Europa antreten, fühlt sich eigenartig an. Während ich aus dem Fenster blicke, ziehen die Eindrücke der letzten Tage an mir vorbei: die stille Anmut von Lijiang, die schroffe Kraft der Tigersprung-Schlucht, die rituelle Routine in Shangri-La. Es ist, als hätte ich einen kurzen Blick in eine andere Welt geworfen – eine, die so fremd ist, dass ich sie kaum greifen kann.
Yunnan ist nicht der Ort, der einen romantisch verzaubert, sondern einer, der einen staunen lässt – über die Fremdheit der Welt hier im Himalaya. Obwohl ich viele Orte dieser Erde gesehen habe, verblüfft mich immer wieder, wie tief die Unterschiede sein können. Hier ist das Leben nicht nur anders, sondern unübersetzbar. Die Menschen sprechen nicht meine Sprache, nicht nur wörtlich, sondern auch im übertragenen Sinne. Ihre Welt – geprägt von Tradition, Glaube und dem täglichen Überlebenskampf – bleibt für jemanden wie mich, einen Journalisten aus dem Westen, in weiten Teilen unerreichbar.
Und doch ist es gerade diese Unzugänglichkeit, die Yunnan so faszinierend macht. Es ist eine Erinnerung daran, dass es immer noch Ecken der Welt gibt, die sich nicht einfügen, die sich nicht anpassen. Orte, an denen das Leben seinen eigenen, unnachgiebigen Rhythmus hat. Während die Berge hinter uns verschwinden, bleibt weniger das Gefühl von Verbundenheit, sondern eher eine leise Demut – und die Erkenntnis, dass die Welt, so klein sie manchmal scheint, immer noch unendlich groß und unfassbar fremd sein kann.
Bildrechte: Judith Heede